Potsdam gedenkt 74. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus
Oberbürgermeister Mike Schubert und die Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung,
Birgit Müller, haben heute dem 74. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und des
Endes des Zweiten Weltkrieges gedacht. Sie legten auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof am
Bassinplatz einen Kranz nieder. Schubert erinnerte an die brutale Gewalt des Krieges und dem
großen Leid der Menschen. 70 Jahre nach Gründung der Europäischen Union sei Europa heute
ein Friedensprojekt, ein gemeinschaftliches Werk in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, das
dazu aufruft, den Frieden zu bewahren und nicht zugunsten einer neu aufkommenden
nationalistischen und autoritären Politik einzuschränken oder gar Stück für Stück auszuhöhlen.
Das Gedenken der Landeshauptstadt findet in Kooperation mit der Brandenburgischen
Freundschaftsgesellschaft e. V. (BFG) und der Schule der Künste „InteGrazia“ des deutschrussischen
Vereins „Semljaki e. V.“ statt. Anbei dokumentieren wir die Rede des
Oberbürgermeisters:
„Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
sehr geehrte Botschaftsvertreter,
sehr geehrte Frau Müller,
sehr geehrter Herr Muck,
sehr geehrter Herr Brix,
sehr geehrte Landtags- und Stadtverordnete,
meine Damen und Herren,
der 8. Mai gehört zweifelsohne zu den tiefsten Zäsuren der deutschen und europäischen
Geschichte. In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 wurde im sowjetischen Hauptquartier in
Berlin-Karlshorst das Einstellen aller Kampfhandlungen nach der bedingungslosen Kapitulation
der Wehrmacht vereinbart.
Nun schwiegen endlich die Waffen – zumindest in Europa. In Asien sollte der Zweite Weltkrieg
noch bis zum 9. September 1945 andauern und mit dem Abwurf zweier Atombomben ein
furchtbares Fanal erreichen.
In Europa hatte der vom Deutschen Reich entfesselte totale Krieg am 8. Mai zu seiner totalen
Niederlage geführt. Dieser Krieg hatte die unvorstellbare Zahl von bis zu 60 Millionen
Todesopfern gefordert. Dieser Krieg hatte ganze Städte in ganz Europa in Schutt und Asche
gelegt. Dieser Krieg hatte Millionen von Menschen entwurzelt, sie zur Flucht genötigt und aus
der Heimat vertrieben. Dieser Krieg hatte sich in die Körper und Seelen der Menschen so tief
eingebrannt, dass für Millionen von Menschen der Krieg zwar vorbei, aber längst nicht
abgeschlossen war.
Heute am 8. Mai gedenken wir in Trauer der 60 Millionen Todesopfer des Krieges und der
Gewaltherrschaft. Wir gedenken der sechs Millionen ermordeten europäischen Juden. Wir
gedenken ebenso der ermordeten Sinti und Roma, der Menschen mit Behinderung. Wir
gedenken der Menschen, die aufgrund ihrer politischen du religiösen Überzeugungen in den
Tod gehen mussten. Und wir gedenken der Soldaten, die ihr oft so junges Leben ließen, als sie
Potsdam vom Nationalsozialismus befreiten und die auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte
haben.
Der 8. Mai trägt eine Vielschichtigkeit in sich, die uns in unserer gemeinsamen Erinnerung stark
herausfordert. Als Befreiung erlebten all jene die bedingungslose Kapitulation, die unter der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gelitten hatten. Aufatmen konnten all jene, die unter der
nationalsozialistischen Diktatur geächtet, verfolgt, weggesperrt und unter Zwangsarbeit
ausgebeutet worden waren. All jene wurden aus tiefster Demütigung und Todesgefahr befreit.
Ihre Sehnsucht nach einem Ende des nationalsozialistischen Deutschlands war in Erfüllung
gegangen.
Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung erlebte den 8. Mai 1945 jedoch nicht als Befreiung.
Sehr viele hatten Angst vor dem, was kommen würde. Sehr viele befürchteten, ihre
Daseinsberechtigung verspielt zu haben. Wie sollte nach solch einem Krieg neues, normales
Leben wieder möglich sein? Der völlige Zusammenbruch des zwölf Jahre währenden
nationalsozialistischen Regimes hatte letztlich doch einen geistigen und moralischen Bankrott
der deutschen Gesellschaft bedeutet.
Dabei ist der 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen, als Adolf Hitler die Macht
übertragen wurde unter dem Jubel so vieler Menschen, die dieser Bewegung verfallen waren
oder die Augen verschlossen oder wegschauten oder stillschweigend duldeten, wenn Kritiker
und Andersdenkende der neuen, radikalen Bewegung verfolgt, weggesperrt und ermordet
wurden.
Was wir ebenfalls nicht verschweigen dürfen: Der Krieg, der 1945 endete, begann vor 80
Jahren, als eben Deutschland moralische Sitten und völkerrechtliche Verbindlichkeiten brutal
beiseiteschob, um mit dem Überfall auf Polen einen verbrecherischen Vernichtungskrieg
anzuzetteln.
Als die alliierten Soldaten und insbesondere die Rote Armee unter höchsten Opfern den Sieg
über das nationalsozialistische Deutschland erkämpft hatten, wurden die Deutschen in gewisser
Weise von sich selbst befreit. Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, im 8. Mai den
paradoxen Zusammenhang von Niederlage und Befreiung zu erkennen. Die Deutschen wurden
gleichwohl nicht nur befreit vom Nationalsozialismus, vom Krieg, von Gewalt, von einem Irrweg
ihrer eigenen Geschichte – und in dieser Befreiung war für viele eine Niederlage eingeschrieben.
Die Deutschen wurden auch befreit zu Etwas.
Wir wurden befreit zur Zivilisation. Wir wurden befreit zu bürgerlichen Freiheitsrechten. Wir
wurden befreit zu Menschenrechten. Freilich gestalteten sich Ende und Anfang 1945 in Ost und
West nicht gleichermaßen. Mit der Befreiung erlebte der Osten Deutschlands sehr bald eine
neue Unterdrückung, die erst 1989 ihr Ende fand.
Die unterschiedliche Erinnerung an den 8. Mai im Osten und Westen Deutschlands, aber
natürlich auch die je unterschiedlichen Erinnerungen an das Kriegsende in den europäischen
Ländern, all jene Erinnerungen haben die Bereitschaft geformt, Schuld und Verantwortung
anzunehmen als eine der zentralen Voraussetzungen dafür, demokratisch zu sein. Nehmen wir
die Erinnerung wirklich ernst, dann führt uns diese Erinnerung zu einer ehrlichen, aber auch
schonungslosen Auseinandersetzung mit unserer jeweiligen Vergangenheit. Es geht dabei um
die innere Befreiung durch einen wahrhaftigen Umgang mit den schuldhaften Anteilen der
Geschichte.
Insofern können wir von Befreiung durch Erinnerung sprechen als einen Prozess, der nicht
abgeschlossen, der vielmehr aktiv voranzutreiben ist. Mehr denn gilt das heute. 70 Jahre nach
Gründung der Europäischen Union als ein Friedensprojekt für Europa heißt es, dieses
gemeinschaftliche Werk zu bewahren und nicht zugunsten einer neu aufkommenden
nationalistischen und autoritären Politik einzuschränken oder gar Stück für Stück auszuhöhlen.
Gerade wir Deutsche sind einen schmerzhaften Weg in der Auseinandersetzung mit unserer
schmerzhaften Vergangenheit gegangen. Dieser Weg hat uns jedoch zu mündigen Bürgern
gemacht mit Verantwortung für unser Tun und unser Unterlassen. Wir können uns heute nicht
mehr aus dieser historisch gewachsenen, durch eine innere Befreiung erfolgte Mündigkeit und
Souveränität davonstehlen. Aus der Erinnerung gerade an den 8. Mai 1945 erwächst die
Verantwortung für unsere Zukunft, für ein Potsdam, für ein Deutschland, für ein Europa in
Freiheit und Frieden. Wir alle sind aufgefordert, unseren Beitrag dafür zu leisten.
Lassen Sie uns nun eine Minute still schweigen zu Ehren der Toten von Krieg und Gewalt.“