Potsdam

Serie zerstörerischer Erdbeben im – eigentlich seismisch inaktiven – Nordwesten Afghanistans

Erste Analysen von Satelliten- und GEOFON-Daten geben Einblicke in die Vorgänge rund um die Herat-Verwerfung, eine Region, die eigentlich als seismisch inaktiv gilt

Eine Serie schwerer Erdbeben hat den Nordwesten Afghanistans erschüttert. Bereits am vergangenen Samstag, dem 7. Oktober, hatte das GEOFON-Netzwerk des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ um 11:11 Uhr und 11:43 Uhr Ortszeit in Afghanistan (6:41 und 7:13 UTC) ca. 30 Kilometer nordwestlich der Stadt Herat zwei zerstörerische Erdbeben mit Magnituden von M 6,2 und M 6,3 (geofon.gfz-potsdam.de) in geringer Tiefe von nur rund 10 Kilometern aufgezeichnet.

Herat ist nach Kabul die zweitgrößte Stadt des Landes. Allein für diese erste Bebenserie sprechen lokale Behörden von mindestens 2000 Toten (dpa, ZEIT) und Tausenden von Verletzten. Nach Angaben der WHO wurden mindestens 600 Häuser in dreizehn afghanischen Dörfern zerstört.

Heute, am frühen Morgen des 11. Oktober um 5:11 Uhr Ortszeit (0:41 UTC), gab es das dritte starke Beben rund 10 Kilometer westlich der vorherigen Epizentren, mit einer Magnitude von M 6,3 in einer Tiefe von ca. 10 Kilometern.

Erste große Erdbeben in dieser Region seit Jahrhunderten

Es waren die ersten großen Erdbeben (M > 4,5), die in dieser Region im Nordwesten Afghanistans nahe der Grenze zu Iran aufgezeichnet wurden, seit ab ca. 1900 offizielle Daten vorliegen. Im Gegensatz zum Osten des Landes, der häufiger von schweren Beben betroffen ist – zuletzt im Sommer 2022 –, gilt der Nordwesten als seismisch weitgehend inaktiv: Es gibt keine historischen Belege für ähnlich verheerende Ereignisse in dieser Region aus den vergangenen Jahrhunderten.

Weitere Nachbeben erwartbar

Zusätzlich zu den Hauptbeben wurden bis jetzt (11.10., 12:15 UTC) vom GEOFON-Netzwerk 14 Nachbeben mit einer Stärke von M ≥ 4,3 registriert, 12 davon in den ersten beiden Tagen. Darüber hinaus könnten in dem Gebiet viele kleinere Beben zu spüren gewesen sein. Es ist zu erwarten, dass die seismische Aktivität noch mindestens mehrere Wochen lang erhöht bleibt.

Riss im Herat-Verwerfungssystem

Unsere vorläufige Analyse seismischer und satellitengeodätischer Daten (Radar-Satelliten-Interferometrie, InSAR) zeigt, dass die Erdbeben ein 10-20 Kilometer  langes westliches Segment des ca. 700 Kilometer langen Herat-Verwerfungssystems aufgerissen haben, welches das Hindukusch-Gebirge von Westen nach Osten durchquert. Darüber hinaus hat sich die Erde in einem Gebiet von 20 mal 30 Kilometern um das Epizentrum um rund 40 Zentimeter angehoben.

Der Hindukusch ist Teil des Gebirgsgürtels zwischen Alpen und Himalaya und liegt westlich des Himalayas. Er entstand durch den Druck, den die Indische Kontinentalplatte ausübte, als sie nach Norden auf die Eurasische Platte stieß.

Die Analyse der beiden Hauptbeben deutet darauf hin, dass es sich bei beiden Erdbeben um Schubereignisse handelt, die von einer Nord-Süd-Kompression verursacht werden.

Spärliche In-situ-Beobachtung der Region

Zur Analyse des Erdbebens trägt auch eine seismische Station in Kabul bei, die zum weltweiten GEOFON-Netz des GFZ sowie zu dem auf Geo-Gefahren fokussierten Global Change Observatory Central Asia des GFZ gehört. Generell sind unsere Möglichkeiten zur direkten Beobachtung von Ereignissen in dieser Region aufgrund der langjährigen politischen Unruhen jedoch eingeschränkt; am westlichen Ende der Herat-Verwerfung gibt es – zusätzlich zu den InSAR- überhaupt keine GNSS-Satellitenmessungen.

Hintergrund: Seismisch aktive und inaktive Regionen in Afghanistan

Die Herat-Verwerfung gilt eigentlich als seismisch inaktiv. Die Hintergrundseismizität konzentriert sich entlang der Ausläufer des Hindukusch (USGS). In der Nähe von Herat, in den westlichen Ausläufern des Hindukusch, ereignen sich nur wenige kleinere Erdbeben der Stärke M 4, etwa alle 10 Jahre.

Dort, wo der östliche Hindukusch an das tektonisch hochaktive Pamirgebirge anschließt, nimmt die Seismizität der Kruste jedoch zu. Zusammen mit unseren GFZ-Seismologen haben wir vor kurzem einen laufenden Abbruch der subduzierten Platte festgestellt (Kufner et al., 2021). Dies hat zur Folge, dass die westliche Krustenbewegung beim Durchqueren des östlichen Hindukusch von Süden nach Norden um ca. 10 Millimeter pro Jahr zunimmt (Kufner et al., 2020), wobei die Krustendehnung über das gesamte Kollisionsgebirge verteilt ist.

Was genau die aktuellen Beben antreibt, bleibt bisher eine offene Frage

Im Allgemeinen werden im westlichen Teil des Hindukusch weniger seismische Spannungen akkumuliert als im östlichen Teil, was auf die zunehmende Entfernung zur aktiven Plattengrenze und den laufenden Plattenabbruch zurückzuführen ist.

Daraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass es entlang der Herat-Verwerfung nicht zu starken Ereignissen kommen könnte. Diese riesige Verwerfung hat eine sehr prägnante morphologische (topografische) Ausprägung und muss in geologischen Zeiten eindeutig eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Tatsache, dass der westliche Teil der Verwerfung in den letzten tausend Jahren inaktiv war, schließt – wie man jetzt sehen konnte – das Auftreten von großen Erdbeben in der Zukunft nicht völlig aus (Ambraseys und Bilham, 2003).

Ein Beitrag von N. Kakar (Sektion 1.2), S. Metzger (Sektion 4.1), T. Schöne (Sektion 1.2), F. Tilmann (Sektion 2.4), J. Saul (Sektion 2.4).

Redaktion: Uta Deffke

Informationsquellen:

GEOFON-Erdbeben-Monitor:

https://geofon.gfz-potsdam.de

Central Asian Fault data base:
esdynamics.geo.uni-tuebingen.de/faults
Mohadjer, S., Ehlers, T.A., Bendick, R., Stübner, K., Strube, T.: A Quaternary fault database for central Asia, Nat. Hazards Earth Syst. Sci., 16, 529-542, 2016. doi:10.5194/nhess-16-529-2016

Information zur Herat-Verwerfung:
Nicholas Ambraseys, Roger Bilham; Earthquakes in Afghanistan. Seismological Research Letters 2003; 74 (2): 107–123. doi: 10.1785/gssrl.74.2.107

GFZ Publikation zum Plattenabbruch:
Kufner, S.-K., Kakar, N., Bezada, M., Bloch, W., Metzger, S., Yuan, X., Mechie, J., Ratschbacher, L., Murodkulov, Sh., Deng, Z., Schurr, B. (2021), The Hindu Kush slab break-off as revealed by deep structure and crustal deformation, Nature Comm., 12, 1685. doi:10.1038/s41467-021-21760-w (open access)

Abbildungen

Abb. 1+2:
Erdbebengebiet nordwestlich von Herat im Nordwesten Afghanistans. Dargestellt sind InSAR-Satellitendaten: Mithilfe der Radar-Interferometrie können Deformationen der Erdoberfläche erfasst werden. Besonders starke Veränderungen (Ringmuster) zeigen sich dort, wo die Erdbebenzentren sind (Punkte). Im kleinen Bild sind die Verwerfungszonen gezeigt sowie die verstärkte Bebenhäufigkeit im Osten. (Grafik: Kakar, GFZ)

Links:

https://media.gfz-potsdam.de/gfz/wv/pm/23/20231010_PM_Earthquake-Afghanistan_ASC_Fringes3_v1_Kakar.png

https://media.gfz-potsdam.de/gfz/wv/pm/23/20231010_PM_Earthquake-Afghanistan_ASC_Fringes2_2000_Kakar.png

Abb. 3:
Erdbebengebiet nordwestlich von Herat im Nordwesten Afghanistans. Berechnete Deformation der Region aus gemessenen Satellitenradarinterferometriedaten: In blau – Hebung um mehrere zehn cm (= geringerer Abstand zum Satelliten). In rot – Absenkung um mehrere zehn Zentimeter (= wachsender Abstand zum Satelliten). Im kleinen Bild sind die Verwerfungszonen im ganzen Land gezeigt sowie die verstärkte Bebenhäufigkeit im Osten. (Grafik: Kakar, GFZ)

Link:
https://media.gfz-potsdam.de/gfz/wv/pm/23/20231010_PM_Earthquake-Afghanistan_ASC_Displacement2_2000_Kakar.png

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