Politik

Rede von Außenministerin Annalena Baerbock in der Sitzung „Die Rolle der G20 beim Umgang mit den fortgesetzten internationalen Spannungen“ des G20-Außenministertreffens in Rio de Janeiro

Eine gerechte Welt und einen nachhaltigen Planeten schaffen –
ich glaube, dieses Motto der brasilianischen Regierung für ihren G20-Vorsitz bringt das auf den Punkt, was die meisten von uns hier anstreben: eine sicherere und gerechtere Zukunft für all unsere Kinder, ganz egal, wo sie leben.
Heute jedoch lebt jedes sechste Kind auf der Welt in extremer Armut. Als G20 – als die größten Volkswirtschaften der Welt – können wir das nicht hinnehmen.
Ich bin daher äußerst dankbar, dass wir über das Thema Gerechtigkeit morgen ausführlich diskutieren werden.
Wir werden den Kampf gegen Ungleichheit nicht gewinnen können, wenn wir die Kriege und Krisen dieser Welt nicht in den Griff bekommen.
Ich bin nicht der Meinung wie manche, die sagen, wir sollten nicht über geopolitische Spannungen debattieren.
Immer und immer wieder haben wir, insbesondere in den letzten beiden Jahren, gesehen,
dass Krisen und Kriege Ungerechtigkeit verstärken, die Schwächsten am härtesten treffen – insbesondere Frauen und Kinder, überall auf der Welt –, die Entwicklung verhindern, Gerechtigkeit verhindern, eine gerechte Welt verhindern.
Und doch setzt ein G20-Mitglied die Welt seit nunmehr zwei Jahren rücksichtslos der schlimmsten Art des Konflikts aus: einem Angriffskrieg.
Russlands Krieg hat schreckliches Leid über die ukrainische Bevölkerung gebracht, insbesondere über die Schwächsten, über Frauen und Kinder.
Durch das bewusste Bombardieren von Geburtskliniken, Schulen und Kindertagesstätten.
Durch die Verschleppung Tausender Kinder aus der Ukraine nach Russland, wo ihre Namen geändert werden, damit ihre Mütter sie nie wiederfinden werden.
Und dieser Krieg fügt auch Menschen über die Ukraine hinaus Wunden zu.
Durch den Angriff auf die Ukraine und die Blockade von Lebensmittelexporten setzt Russland Nahrung erbarmungslos als Waffe ein. Und trifft damit wieder die Ärmsten der Welt, Frauen und Kinder. Russland hat die Preise und die Inflation weltweit in die Höhe getrieben und lacht damit den Schwächsten dieser Erde ins Gesicht.
Auf unseren Reisen um die Welt sehen wir alle, was Hunger bedeutet. Als ich letztes Jahr mit meiner französischen Amtskollegin Äthiopien besucht habe; als ich vor drei Wochen im Südsudan war, wo ich mit Frauen gesprochen habe, die der Gewalt im Sudan entkommen waren, mit nichts als einer Tasche voller Habseligkeiten und ihren Kindern auf dem Rücken.
Wir alle können den tapferen Männern und Frauen, die die Ukraine verteidigen, dankbar sein, dass sie Russlands Kriegsschiffe aus dem westlichen Teil des Schwarzen Meeres zurückgedrängt und somit eine Wiederaufnahme der Lebensmittelexporte ermöglicht haben.
Liebe Naledi, ich bin dankbar für die Anstrengungen, die du sowie afrikanische Staats- und Regierungschefinnen und -chefs unternommen haben, um das Leid zu beenden. Durch Reisen nach Russland und in die Ukraine, nach Butscha. Durch ein besonderes Augenmerk auf die Kinder.
Präsident Putin hat wieder und wieder bewiesen, dass Menschenleben für ihn in seinem imperialen Streben nichts zählen – im Ausland ebenso wenig wie im Inland, wo er nun nicht einmal davor zurückschreckt, Kinder und Jugendliche zu verhaften, die zum Gedenken an Alexej Nawalny Blumen niederlegen.
Sehr geehrter Herr Lawrow,
wenn Ihnen Menschenleben am Herzen liegen, wenn Ihnen Ihr eigenes Volk, russische Kinder und Jugendliche, am Herzen liegen, müssen Sie diesen Krieg jetzt beenden. Wenn Russland diesen Krieg jetzt beenden würde, dann wäre der Weg frei für Frieden, für Gerechtigkeit, was wir alle fordern.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
wenn wir eine „gerechte Welt“ schaffen wollen, dann müssen wir Kriege und Krisen gemeinsam angehen –
resolut, entschlossen,
respektvoll
und mit der Bereitschaft zur Selbstreflexion.
Ich respektiere, dass wir unterschiedliche Sichtweisen auf den Krieg in der Ukraine haben. Ich respektiere, dass ein Land in 10.000 Kilometer Entfernung von Kiew eine andere Dringlichkeit im Hinblick auf diese Sicherheitsbedrohung verspürt als ein Land in Europa.
Ich bin dankbar, dass einige von euch uns vor zwei Jahren sagten: „Wo wart ihr, als wir euch brauchten?“ Doch wir können die Vergangenheit nicht ändern; wir können nur die Zukunft gemeinsam gestalten.
Russlands Aggression ist mehr als nur ein regionaler Konflikt. Sie macht es erforderlich, dass wir alle entschieden die zentralen Grundsätze verteidigen, die uns alle schützen: die Charta der Vereinten Nationen, das Völkerrecht, die Menschenrechte.
Diese Grundsätze schützen alle Nationen, egal wie groß oder klein sie sind.
Und wir verteidigen sie überall auf der Welt – in Europa, in Afrika oder im Nahen Osten.
Wie viele von euch sind auch wir zutiefst geschockt angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Gaza. Wieder sind es die Kinder, die am meisten leiden.
17.000 Kinder, die ohne Mutter sind, ohne Vater, die allein sind.
Hunderttausende, die verzweifelt Nahrung und Wasser benötigen.
Dieses Leid muss jetzt ein Ende haben.
Aber es wird nicht enden, wenn wir einfach nur ein Ende fordern. Wir müssen uns für ein Ende einsetzen. Jeden Tag. Jede Minute.
Wir brauchen jetzt eine humanitäre Pause, damit wir auf einen langfristigen Waffenstillstand hinarbeiten können.
Die Hamas muss die israelischen Geiseln freilassen. Jetzt.
Babys, Frauen, kleine Kinder – immer noch von der Hamas festgehalten.
Wir brauchen humanitäre Hilfe in Gaza – jetzt.
Deutschland ist eines der größten Geberländer für humanitäre Hilfe weltweit, genaugenommen der zweitgrößte Geber. Auch für UNRWA. Wir stehen zu unserer internationalen Verantwortung. Aber dafür brauchen wir eine humanitäre Pause.
Dieser Konflikt hat in vielen unserer Länder intensive Emotionen hervorgerufen. Und ich glaube, deshalb ist Selbstreflexion so wichtig, wenn es um unsere Reaktion geht.
Es ist wichtig, den Schmerz auf beiden Seiten zu sehen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Menschlichkeit unteilbar ist.
Es gibt kein christliches Blut. Es gibt kein muslimisches Blut. Es gibt kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. So hat es vor wenigen Tagen eine 102 Jahre alte Holocaust-Überlebende formuliert.
Deshalb brauchen wir eine Lösung, die es sowohl Palästinensern als auch Israelis ermöglicht, Seite an Seite in Frieden und Sicherheit zu leben. In zwei Staaten.
Ich bin so vielen hier an diesem Tisch dankbar; ich bin unseren arabischen Freunden und Partnern dankbar, die unermüdlich mit uns hinter verschlossenen Türen an einer solchen Lösung arbeiten.
Denn darum geht es in der Diplomatie:
Einander respektvoll zuhören,
das eigene Handeln reflektieren
und der Aggression entschieden, resolut entgegenzutreten.
Damit wir konkrete Schritte nach vorn finden,
hin zu einer gerechten Welt und einer besseren Zukunft – für all unsere Kinder. Ganz egal, wo in dieser Welt sie leben.

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