Politik

Rede von Außenministerin Annalena Baerbock zur Verleihung des Sonder-Politikawards an Shadi Sadr, stell­vertretend für die Protestbewegung in Iran

Am Anfang deiner beeindruckenden Geschichte steht ein Fahrrad.
Ein Fahrrad, auf dem du einmal nicht mehr fahren durftest. Du warst zehn Jahre alt, als deine Mutter dir verboten hat, weiter mit deinem geliebten Rad durch die Straßen zu brausen, so wie es all die Kinder in Deutschland tagtäglich tun. Deine Mutter hat dir das Fahrrad nicht als Strafe weggenommen, sondern um dich zu schützen, weil es für Mädchen in deinem Alter gefährlich wurde, in Teheran einfach nur das zu tun, was alle Kinder tun: Rad zu fahren. Du hast erzählt, dass du damals, als 10-jähriges Kind eine ungeheure Wut verspürt hast. Warum durften dein Bruder, warum durften all die Nachbarjungs einfach weiterfahren und du nicht? Du hast gesagt, dass dieser Punkt für dich und dein Leben ein Wendepunkt war. Ich zitiere: „Schon als kleines Mädchen wächst du mit diesem Gefühl des Unrechts auf, der Diskriminierung. Du wünschst dir, du wärst als Junge geboren.“ Du wolltest das nicht hinnehmen.
Du hast Jura studiert. Und sobald ein Studium abgeschlossen hattest, hast du mit anderen Anwältinnen Rechtsbeistand für Frauen geleistet, die zum Tode verurteilt waren. Mit deiner Expertise hast du dich für andere Frauen stark gemacht. Und das machst du bis heute. Auch, nachdem du selbst wegen deiner Arbeit immer wieder verhaftet wurdest. Im Jahr 2009 hast du dein Land verlassen können und bist nach Europa geflohen. In deiner Abwesenheit wurde dann das höhnische Urteil über dich gesprochen: „Handeln gegen die nationale Sicherheit und Schädigung der öffentlichen Ordnung.“ Und das hieß: sechs Jahre Gefängnis und 74 Peitschenhiebe.
Liebe Shadi, du hast deine Freiheit retten können. Und du kämpfst jetzt für die Freiheit und die Rechte so vieler anderer. Ich glaube, deine Geschichte zeigt uns allen hier, die wir hier sitzen, wie dankbar wir sein können, dass wir in Freiheit leben. Und dass uns diese Freiheit immer auch Verpflichtung sein muss, eben weil sie so selbstverständlich ist.
Liebe Shadi, ich glaube, ich spreche für jeden hier im Raum, wenn ich sage: Schön, dass du heute hier bist – für so viele mutige Frauen aus dem Iran.
Du hast gesagt, die Opfer der Unfreiheit wollen die Wahrheit. Sie wollen Gerechtigkeit. Deine Organisation sammelt seit Jahren Daten zu Menschenrechtsverletzungen, damit die Täter zur Rechenschaft gezogen werden können. Der Mut, gegen das Unrecht aufzustehen, nicht aufzugeben, sondern weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen, auch wenn man nie weiß, wann das der Fall sein wird, und das unter persönlichem Risiko – dieser unglaubliche Mut ist es, den du mit den vielen Frauen und Männern in Iran teilst, die mutig für ihre Rechte kämpfen. Der Sonderpreis, mit dem du heute geehrt wird, steht dafür, dass niemand das Recht hat, die Freiheit von Frauen, von Männern, von Kindern mit Füßen zu treten. Ich möchte unterstreichen: Ein Leben in Freiheit und Würde ist kein Verbrechen. Es ist ein Menschenrecht. Ein Menschenrecht, das universell gilt. Deswegen heißt die „Erklärung der Menschenrechte“ ja auch „Allgemeine Erklärung“ – „Universal Declaration of Human Rights“, weil sie jedem Menschen, egal welchen Geschlechts, ob Mann oder Frau, ob alt oder jung, egal welcher Farbe, egal welcher Religion zusteht. Jedem Bürger auf unserem Planeten.
Iran hat die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert. Daran muss es sich messen lassen. Und ich frage mich als Frau – so wie viele andere Frauen hier im Raum, die dafür nicht nur seit einem Dreivierteljahr, sondern seit Jahren, seit Jahrzehnten kämpfen: Wie groß muss die Angst sein vor Frauen ohne Schleier, wenn der iranische Justizchef das Ablegen des Hijab als eine „Feindseligkeit gegen das System und seine Werte“ bezeichnet? Wie groß muss die Angst sein, wenn ein neues Gesetzesvorhaben vorsieht, dass Frauen, die den Hijab ablegen, die Telefon-, die Internetverbindung gekappt wird, dass ihre Bankverbindungen, ihre Bankkonten eingefroren werden, ihre ID-Karte beschlagnahmt, so dass diese Frauen weiter aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden? So ein Land, das die Hälfte seiner Bevölkerung einsperrt – ob digital oder per Bank Account-, das hat keine Zukunft. Klar ist: der Kampf um die Freiheit, den können die Iranerinnen und Iraner nur selbst führen und gewinnen. Das ist von außen, ich sage das ganz deutlich, manchmal schwer zu ertragen. Aber auch das ist Außenpolitik: Das Ertragen, das, was du seit Jahrzehnten machst: dass selbst wenn man nicht weiß, wann der Tag der Gerechtigkeit kommen wird, dass man weiter dafür kämpft. Und das tun wir auch politisch. Wir stehen dir, wir stehen, wir stehen den Menschen in Iran zur Seite, wenn sie ihre legitimen Rechte einfordern. Das ist Teil einer feministischen Außenpolitik. Aber eigentlich ist es egal, wie man es nennt: das ist Teil von Außenpolitik. Nicht aufzugeben, weil man nicht vorankommt, sondern Netzwerke zu bilden. Und wir geben nicht auf. Solange die Mädchen sich wünschen müssen, als Junge geboren zu sein, um in Freiheit zu leben.
Genau deswegen haben wir als Europäische Union mit gezielten Sanktionen, und zwar Menschenrechts­sanktionen, das hat es zuvor noch nicht gegeben, den Druck auf die Verantwortlichen erhöht. Heute (gemeinsam mit meinem luxemburgischen Kollegen Jean Asselborn, der ja hier auch bekannt ist), das achte Sanktionspaket auf den Weg gebracht. Genau deswegen leihen wir die Menschen in Iran unsere Stimme in den Vereinten Nationen, damit Beweise gesammelt werden können, die ihr, die deine NGO dann eines Tages endlich nutzen kann und Verbrechen nicht ungestraft bleiben.
Das gilt insbesondere für das, was den Frauen und Männern im Gefängnis angetan wird. Das gilt ganz besonders für die grausamste aller Strafen: die Todesstrafe. Iran ist das Land, das gemessen an der Bevölkerungszahl die Todesstrafe weltweit am häufigsten anwendet und vollstreckt. Gerade letzte Woche wurden in Iran drei weitere Menschen hingerichtet. Warum? Weil sie für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass diese Todesurteile nicht vollstreckt werden. Auch wenn wir nicht wissen, ob wir damit Erfolg haben werden. Und wir werden nicht wegschauen, wenn weiter Giftanschläge auf Schulmädchen verübt werden. Mädchen, die Fahrrad fahren wollen, die einfach nur zur Schule gehen wollen. Denn, liebe Shadi, wie du so richtig sagst: die Opfer brauchen Gerechtigkeit. Den Frauen und Männern, den Jugendlichen und Kindern in Iran, die wir heute hier – stellvertretend mit dir – mit diesem Preis ehren, wollen wir damit versichern: Wir werden euch nicht vergessen. Wir stehen an eurer Seite. Auch dafür steht der heutige Preis.
Liebe Shadi, du hast gesagt – und ich glaube, das gilt für wahnsinnig viele hier in Deutschland, die hier leben, die hier Schutz gefunden haben, aber eigentlich für Menschen auf der ganzen Welt und vor allem in Iran – wie sehr die Tötung von Mahsa Jina Amini, wie die brutale Niederschlagung der Proteste, dir nahegegangen ist. Aber wie das, was danach gefolgt ist, dir wieder Kraft gegeben hat. Und dann hast du etwas ergänzt, was ich glaube, jede Mutter, jeder Vater als ein großes Geschenk empfinden würde, ob hier oder anderswo auf der Welt.
Ich zitiere dich:
„Es ist ein langer Weg, bis die Menschenrechte in Iran beachtet werden. Die Proteste aber haben diesen Weg beschleunigt und die Menschen, die diese Proteste angestoßen haben, die sind im Alter meiner Tochter. Vielleicht haben wir Mütter also doch etwas richtiggemacht.“
Ich sage dir: ihr habt alles richtiggemacht. Wir verneigen uns vor euch und euren Taten. Liebe Shadi, ich stehe hier stellvertretend für diejenigen, die diesen Preis ausgelobt haben und ich glaube, für die ganz große Mehrheit in unserem Land. Wir wünschen euch so sehr, den Frauen, den Männern, den Jugendlichen, den Kindern in Iran, dass eines Tages kein Mädchen mehr denken muss: „Wäre ich nur als Junge geboren.“ Herzlichen Glückwunsch zu diesem besonderen Preis. Ihr, du, die Menschen in Iran haben ihn mehr als verdient.

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