Politik

Rede von Außenministerin Annalena Baerbock beim Ministerial Side-Event „The ICC and the Crime of Aggression: In Defense of the UN Charter“ anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Römischen Statuts

1998 richtete UN-Generalsekretär Kofi Annan bei der Eröffnung der Staatenkonferenz zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs folgende Worte an die Delegierten:
„Ich hoffe, Sie werden in jedem Augenblick spüren, dass die Augen der Opfer sowohl vergangener als auch etwaiger künftiger Verbrechen fest auf uns gerichtet sind.“
Er sagte damit etwas ganz Entscheidendes: Gerechtigkeit hängt davon ab, was wir als Politikerinnen, Diplomaten und Juristinnen tun – oder nicht tun.
Es ist an uns, das Völkerrecht an neue Realitäten anzupassen – um die Schwächsten zu schützen und eine friedlichere Welt zu bauen.
Kofi Annans Worte haben auch nach 25 Jahren nichts von ihrem Wahrheitsgehalt eingebüßt.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns an einen Wendepunkt geführt, an dem wir aus meiner Sicht alle in der Pflicht stehen, das Völkerrecht voranzubringen.
Russland – ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats – annektiert Territorien seines Nachbarn und versucht, ihn seiner imperialen Vorherrschaft zu unterwerfen.
Das ist beispiellos und schien uns unvorstellbar. Aber es ist die Realität.
Gleichzeitig führt Russlands Krieg uns vor Augen, dass für das Ur-Verbrechen, das „crime of crimes“, wie die liechtensteinische Außenministerin das Verbrechen der Aggression nannte, das so viele weitere Verbrechen erst möglich macht, eine klaffende Lücke im Völkerrecht besteht.
Deutlicher formuliert: Wir sehen, dass es eine Unstimmigkeit in unserem Völkerrecht gibt.
Der zentrale Pfeiler der UN-Charta ist der Grundsatz der Nichtanwendung von Gewalt.
Und dennoch ist es besonders schwierig, jene juristisch zu belangen, die diesen Grundsatz durch Angriffskriege verletzen.
Der Internationale Strafgerichtshof kann das Ur-Verbrechen nur ahnden, wenn die betreffenden beiden Staaten die Änderungen von Kampala ratifiziert haben oder der UN-Sicherheitsrat die Sache dem IStGH unterbreitet.
Aus diesem Grund ist es aktuell nicht möglich, die russische Führung für ihren Krieg strafrechtlich zu verfolgen. Denn Russland ist, wie wir alle wissen, nicht Vertragspartei des Römischen Statuts. Und eine Unterbreitung durch den Sicherheitsrat würde es selbstverständlich blockieren.
Für mich steht fest, dass wir diese Situation nicht hinnehmen dürfen.
Und es macht mich sehr froh, dass wir heute hier sind, um genau darüber zu reden. Denn wenn wir zulassen – und hier zitiere ich noch einmal Kofi Annan – in jedem Augenblick zu spüren, dass die Augen der Opfer sowohl vergangener als auch etwaiger künftiger Verbrechen fest auf uns gerichtet sind, dann müssen wir anerkennen, dass wir uns einmal mehr an einem Wendepunkt der Geschichte und des Völkerrechts befinden.
Jetzt ist es an uns. Es wäre verantwortungslos, nur zuzuschauen. Wir stehen in der Verantwortung zu handeln, genau wie vor 25 Jahren.
Deswegen habe ich in meiner Rede vor der Haager Akademie für Völkerrecht und auch heute Morgen bei den Feierlichkeiten für das Römische Statut dafür geworben, die völkerrechtliche Lücke hinsichtlich des Verbrechens der Aggression zu schließen.
Für Russlands Krieg gegen die Ukraine – und für jeden künftigen Angriffskrieg, wo auch immer auf der Welt er geführt werden wird.
Damals in Rom war es ein Vorschlag der Bewegung der blockfreien Staaten, der in letzter Minute zu dem Kompromiss führte, mit dem – gegen, wie wir wissen, erheblichen Widerstand – der Gerichtshof die Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression erhielt.
Als wir diese Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs 2017 aktivierten, trugen unter anderem Südafrika, Samoa und Portugal entscheidend zu diesem Durchbruch bei.
Und ich denke, dass wir im Angesicht dieses brutalen Angriffskriegs eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats jetzt aufgerufen sind, zu vollenden, was in Kampala begann.
Ich weiß, dass viele Staaten, unter ihnen einige enge Partner Deutschlands, die Änderungen von Kampala in der Vergangenheit nicht mitgetragen haben oder sich nicht in der Lage sahen, sie zu ratifizieren.
Ich sehe – und ich denke, wir müssen uns das deutlich vor Augen führen –, dass sie berechtigte Bedenken haben.
Ich würde jedoch auch sagen, dass wir uns in diesen Zeiten anschauen müssen, wie häufig internationale Formate, beispielsweise die G7, seit Ausbruch des russischen Krieges auf den IStGH Bezug genommen haben – ganz anders als früher.
Ich denke daher, dass es hier um eine Zeitenwende geht, an der wir als internationale Gemeinschaft unsere jeweilige Haltung hinterfragen müssen.
Daher möchte ich als deutsche Außenministerin all jene, die daran glauben, dass wir die Zukunft des internationalen Strafrechts gestalten können, dazu einladen, den IStGH in seiner aktuellen Verfassung einer Überprüfung zu unterziehen und unsere Diskussionen über eine Reform des Römischen Statuts im Angesicht des russischen Krieges zu vertiefen. Dabei wollen wir auch alle anderen Initiativen einschließen, die von Ländern angeregt wurden, die wie unsere südafrikanischen Freunde dem IStGH in der Vergangenheit sehr nahestanden – genau wie die zahlreichen weiteren Vorschläge, die wir heute Morgen gehört haben.
Wie wir alle – vor allem die Juristinnen und Juristen hier im Saal – wissen, ist das in der Theorie ganz einfach. Wir müssten in Artikel 15bis Absatz 5 des Römischen Statuts nur ein paar Worte streichen, um die Gerichtsbarkeit des IStGH über das Verbrechen der Aggression auf Staatsangehörige von Staaten auszuweiten, die nicht Vertragspartei des Statuts sind. Das wäre nichts Revolutionäres, gilt es doch bereits für die anderen drei Kernverbrechen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Als Politikerin aber weiß ich – und das trifft auch auf all jene zu, die schon länger im Bereich des IStGH tätig sind –, dass das Finden einer theoretisch möglichen Lösung etwas völlig anderes ist als eine tatsächliche Änderung des Statuts.
Wir sollten uns aber auch fragen: Wenn nicht jetzt, wann dann? Und wenn nicht wir, wer sonst?
Ich schlage daher vor, dass wir den Überprüfungsprozess bis 2025 nutzen, um genau das zu tun.
Andererseits wissen wir, dass die Reform des Statuts nicht über Nacht geschehen wird, selbst wenn wir bis 2025 erfolgreich sind.
Deswegen verfolgen wir noch einen zweiten Ansatz, zusammen mit vielen anderen. Wir brauchen eine Lösung für den fortdauernden Angriffskrieg in der Ukraine, denn wir können im Hier und Jetzt keine Straflosigkeit zulassen.
Aus diesem Grund unterstützt Deutschland parallel ein internationalisiertes Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine, wie es auch die G7 befürwortet.
Es wäre auf die Situation in der Ukraine zugeschnitten und würde auf der bestehenden ukrainischen Rechtsprechung beruhen. Und es würde den IStGH ergänzen.
Dieses internationalisierte Sondertribunal würde auf der Arbeit des kürzlich in Den Haag gegründeten Internationalen Zentrums für die Strafverfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine aufbauen.
Und ja, da wir hier unter Fachleuten sind, es stimmt: Da rechtsverbindliche Grundsätze des Völkerrechts vorsehen, dass alle amtierenden Staatsoberhäupter, Regierungschefinnen und -chefs sowie Außenministerinnen und -minister persönliche Immunität genießen, könnte dieses Tribunal weder Präsident Putin noch Regierungschef Mischustin oder Außenminister Lawrow anklagen, solange sie im Amt sind.
Es könnte aber sofort damit beginnen, gegen sie zu ermitteln und so ein mögliches Verfahren für den Zeitpunkt vorzubereiten, an dem sie aus dem Amt scheiden.
Andere schlagen daher – wie wir gerade von meiner lieben Freundin Dominique Hasler gehört haben – ein von der Generalversammlung geschaffenes internationales Tribunal vor.
Und da uns alle hier in diesem Saal dasselbe Ziel eint, möchte ich auf die Details der verschiedenen Aspekte beider Vorschläge eingehen.
Erstens habe ich Zweifel, dass diese andere Form eines von der Generalversammlung geschaffenen internationalen Tribunals die Troika-Immunität überwinden kann.
Ich möchte offen und ehrlich sein: Auf den ersten Blick machte die Idee eines internationalen Sondertribunals auch auf mich einen guten Eindruck, insbesondere nach der großen Mehrheit bei der Abstimmung in der Generalversammlung. Aber nachdem ich mir die juristischen Einzelheiten und vor allem die politischen Realitäten angeschaut habe, glaube ich wirklich, dass das nicht funktionieren wird.
Was ich damit meine ist: Es reicht nicht, dass wir etwas wollen. Wir müssen es auch umsetzen können. Wir haben das einige Male besprochen, auch über die Zeitungen.
Deswegen möchte ich hier ganz offen sein. Einiges mag theoretisch denkbar sein, kann aber mit Blick auf die praktische Umsetzung schon ganz anders aussehen.
Das Römische Statut ist beispielsweise ganz eindeutig: In Artikel 13 Buchstabe b ist festgelegt, dass der Sicherheitsrat dem IStGH eine Situation verbindlich unterbreiten kann. Der Sicherheitsrat. Von einer anderen Institution ist nicht die Rede.
Ich zitiere: „Der Gerichtshof kann […] seine Gerichtsbarkeit […] ausüben, wenn […] eine Situation […] vom Sicherheitsrat, der nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen tätig wird, dem Ankläger unterbreitet wird […].“
Die VN-Generalversammlung verfügt über keine derartigen Befugnisse. Ich weiß, dass einige den Bogen zu früheren Tribunalen schlagen, aber auch hier gilt: Wenn man sich diese genauer anschaut, betrafen sie innere Konflikte, die sich von der derzeitigen Situation unterscheiden –  oder wurden vom VN-Sicherheitsrat eingerichtet.
Und selbst wenn wir einmal annehmen, die Generalversammlung hätte die Macht, anstelle des Sicherheitsrats ein Tribunal einzurichten oder dem UN-Generalsekretär eine Verhandlungsvollmacht zu erteilen, sehe ich angesichts der Realitäten auch hier nicht, wo die für die notwendige Legitimität dieses Tribunals erforderliche deutliche Mehrheit herkommen sollte.
Ja, wir alle erinnern uns daran, dass mehr als 140 Staaten Russlands Angriffskrieg in der Generalversammlung verurteilt haben. Aber auch müssen wir uns die Details anschauen. Ja, eine überwältigende Mehrheit der Staaten sprach sich in der Generalversammlung zugunsten der Ukraine aus. Aber als es um konkrete Maßnahmen gegen Russland ging, beispielsweise im Menschenrechtsrat, da kamen schon weitaus weniger Länder zusammen.
Und außerdem: Wenn wir diese überwältigende Mehrheit in der Generalversammlung mobilisieren könnten, könnten wir dann nicht einfach mit diesen 140 Staaten das Römische Statut mit derselben Mehrheit ändern?
Genau diese Frage wurde mir überall auf der Welt oft gestellt. Geht es wirklich um das Römische Statut? Oder geht es nur um einen Einzelfall? Und ich zumindest kann diese Frage nicht einfach übergehen.
Wir müssen uns über die komplexe Interessenlage verschiedener Staaten im Klaren sein – das ist die echte Welt. Einige Staaten mögen einem Sondertribunal für Russland offen gegenüberstehen – eine globale Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression jedoch weniger gutheißen.
Ein solches Sondertribunal könnte jedoch wiederum – in meinen Augen nachvollziehbarerweise – bei anderen Staaten den Verdacht erregen, es ginge nicht darum, Strafbarkeitslücken zu schließen, sondern vielmehr nur um ausgewählte Länder.
Wir würden sie alle also verlieren. Deswegen ist meine größte Sorge, dass eine gute Absicht – die Einrichtung eines Tribunals durch die Generalversammlung – in der Praxis die von 140 Ländern bei der Verurteilung des russischen Krieges demonstrierte internationale Geschlossenheit gefährden könnte.
Ich befürchte auch, dass es einen Rückschlag für das bedeuten könnte, was wir vor 25 Jahren begonnen haben: die Schaffung des IStGH als ständiges, unabhängiges, allgemein zugängliches Instrument der globalen Strafgerichtsbarkeit.
Zusammengefasst: Ein internationales, von der Generalversammlung eingerichtetes Sondertribunal ist, fürchte ich, zwar eine zauberhafte Idee, die letztlich aber der Wirklichkeit nicht standhalten kann.
Deswegen, und auch als Anregung für unsere Debatten, sollten wir uns zusammenschließen und diesen Moment dazu nutzen, den IStGH selbst zu stärken.
Verdoppeln wir unsere Anstrengungen, um mehr Länder in die IStGH-Familie zu holen.
Alle, die es noch nicht getan haben, sollten dem Römischen Statut beitreten oder die Änderungen von Kampala ratifizieren.
Dazu gehört auch die Ukraine. Meine lieben ukrainischen Freunde – ich kann Dmytro Kuleba hier im Saal gerade nicht sehen, aber wir haben das in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder besprochen: Ich weiß, wie sensibel diese Frage ist. Wie gesagt, hier geht es nicht um die Theorie. Das ist die brutale Wirklichkeit.
Ich kann mir daher vorstellen, dass unter ukrainischen Soldatinnen und Soldaten die bange Frage im Raum steht: Was heißt das für uns, wenn jetzt ratifiziert wird?
Vielleicht denken sie sogar – und genau deswegen betrifft uns das –, dass wir als internationale Gemeinschaft ihnen nicht vertrauen, dass unsere Regierungen nicht hinter ihnen stehen – oder dass es ihre eigene Regierung nicht tut.
Ich bin aber fest davon überzeugt, dass das Gegenteil der Fall ist.
Eine Ratifikation genau jetzt würde erneut deutlich machen: Die Ukraine übt ihr Recht auf Selbstverteidigung aus, wie es in Artikel 51 der UN‑Charta verankert ist. Sie verteidigt das Völkerrecht einschließlich des Genfer Abkommens, sie schützt Zivilpersonen in Kriegszeiten.
Es sind nicht ukrainische Soldatinnen und Soldaten, die einen Angriffskrieg führen – es ist die russische Armee, die das Völkerrecht mit Füßen tritt, indem sie gezielt Zivilpersonen, Straßen, Häfen und sogar Schulen und Krankenhäuser angreift – jeden Tag.
Zusätzlich will ich noch sagen: Das Römische Statut stellt nicht auf einfache Soldatinnen und Soldaten ab. Wenn diese in der Ukraine Verbrechen begehen, können sie vor nationale Gerichte gestellt werden.
Im Statut geht es darum, die politische und militärische Führung zur Verantwortung zu ziehen, die vorsätzlich Befehle unter Missachtung des Völkerrechts erteilt.
Deswegen ist die IStGH-Familie der richtige Ort für die Ukraine. Sie würde die Ukraine stärken – und die Ukraine würde den IStGH stärken.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,
vor 25 Jahren markierte das Römische Statut einen historischen Moment.
Und damit komme ich auf das Eingangszitat zurück: Wir spüren in jedem Augenblick, dass die Augen der Opfer sowohl vergangener als auch etwaiger künftiger Verbrechen fest auf uns gerichtet sind.
Auch heute.
Enttäuschen wir sie nicht!
Vielen Dank!

Kommentar verfassen